R a D Blue 2
 

QUEERTANGO ZÜRICH FEBRUAR 2021

***

Liebe Queer Tango Tanzende,

Jeder Tangotanz ist eine Feier von Beziehungen. Eine Feier davon wie wir uns zu uns selbst, zu unserem Partner, zur Musik und sogar zu den anderen Tänzern im Raum verhalten. Wonach suchen wir in uns selbst? Was treibt uns an, die Umarmung des anderen zu suchen? Trost und Gesellschaft? Harmonie? Bestätigung? Berührung und menschliche Wärme? Die Suche nach einer menschlichen und menschenwürdigen Verbindung?

Können wir uns in dieser schwierigen Welt mit nicht-physischen menschlichen Kontakten zufrieden geben? Wir leben von der Hoffnung und wollen an die Normalität der Zeiten vor der Pandemie glauben. Vielleicht haben wir dabei auch ein wenig über uns selbst und die Menschheit gelernt, dass wir danach streben, positive Ergebnisse zu erzielen, einander zu helfen, sicher und körperlich und geistig gesund zu sein.

Kürzlich stiess ich auf dieses Tango-Zitat von Kamand Kojouri: "Wir tanzen, um uns selbst zu verführen. Um uns in uns selbst zu verlieben. Wenn wir mit einem anderen tanzen, manifestieren wir genau das, was wir an uns selbst lieben, so dass sie es sehen und uns auch lieben können."

Warme Umarmungen,
Marc Vanzwoll

***

Am 28. Oktober 2020 kündigte der Bundesrat neue COVID-19-Massnahmen an, weshalb Chante Clair vorübergehend geschlossen bleibt. Die QueerTango Zürich Milonga vom 26 Februar 2021 muss deshalb leider abgesagt werden.

QueerTango Zürich hat einen Instagram-Account erstellt, um unseren sozialen Outreach und Interaktion zu fördern. Wir haben unser Newsletter-Fotos geteilt und beim Betrachten anderer Accounts wunderschöne Fotos und Videobilder von Queer Tango gesehen. Sie geben uns Inspiration, während wir weiterhin auf das Ende dieser Pandemie warten und hoffen.

***

Männlichkeit, Mythos, und Gesellschaftstanz

Queer Tango ist dabei, festgefahrene Geschlechterrollen im Gesellschaftstanz zu verändern. Wie bei allen Veränderungen hilft es, zu reflektieren, mit welchen Mustern wir angefangen haben, um besser zu verstehen, wo wir hinwollen und wie viel Veränderung wir bereits erreicht haben - und welche weitere Veränderung noch nötig ist. Deshalb sind wir Reto besonders dankbar für seine folgenden Überlegungen zu Geschlechterrollen im Gesellschaftstanz der Vergangenheit und was diese für den Wandel der Rollen heute bedeuten, sowohl im queeren als auch im Mainstream-Tanzen.

Die Herren tragen alle dunkle Anzüge, die Damen haben komplizierte Hochsteckfrisuren, man bewegt sich synchron im Takt des Kapellmeisters – aber Vorsicht liebe Zuschauer: „ein Paar tanzt falsch!“ Tanzsendungen wie die des Ehepaars Fern im deutschen Fernsehen der 1960er-Jahre wirken heute auf den ersten Blick eher lustig, steif und altbacken. Blendet man jedoch aus, dass die Sendung schwarz-weiss ist, dass sich die Mode verändert hat und ein „Meine Herren, darf ich bitten?“ heutzutage ein wenig zu formell wäre, so könnte es erstaunlicherweise auch ein aktueller Einblick in eine (zugegebenermassen eher konservative) Tanzschule sein. Denn auch heute gibt es im klassischen Paartanz noch eine klare Rollenverteilung: Der Herr, der die Dame in seinen starken Armen hält, hat klar definierte Aufgaben – er führt, plant voraus und steuert seine Dame sicher durch die Menge der anderen Tanzpaare. Der Herr allein ist dafür verantwortlich, dass der gemeinsame Tanz für die Dame ein angenehmes und vor allem kein langweiliges Erlebnis wird. Die Dame hingegen, als perfektes Gegenstück zum starken Herrn, hat ihm zu folgen und idealerweise eine gute Figur an seiner Seite zu machen. So wurde letztendlich im Paartanz, trotz grossen gesellschaftlichen Wandels, ein Stück der Welt der 1960er-Jahre konserviert.

Dem Ehepaar Fern wäre der argentinische Tango vielleicht zu „wild“ und „anstössig“ gewesen – gerade deswegen wurde in Europa ja der englische Tango choreographiert und anstelle des argentinischen Tangos in den Tanzschulen gelehrt. Doch egal, ob Standardtänze nach den Regeln des Welttanzprogramms oder der viel weniger durchreglementierte argentinische Tango: An den meisten Orten, ob Schule, Kurs oder Tanzveranstaltung, wird weiterhin ganz selbstverständlich an der klassischen Rollenverteilung festgehalten. Wer als Mann mit einem anderen Mann tanzt, der ruft immer wieder Erstaunen hervor. So wurde ich beispielsweise vor einiger Zeit einmal gefragt, mit wem ich denn tanze. Denn mit Daniel, das ginge schliesslich nicht. Zwei Männer, das bedeute ja zwangsläufig, dass beide führten und keiner folgte.

Gelegentlich wird argumentiert, dass an den klassischen Rollen festgehalten werde, da dies zu beiderseitigem Vorteil sei. Denn im Paartanz könne der Mann noch unangefochten ein „echter Mann“ sein (und hier vielleicht sogar noch mehr als beim in diesem Zusammenhang so oft genannten Grillen), während die Dame sich ganz den schönen Seiten des Tanzes hingeben könne. Aber inwiefern ist dieses Festhalten am Rollenbild der 1960er-Jahre für „den Herrn“ tatsächlich ein Vorteil?

Ob Milonga oder eine andere Form der Tanzveranstaltung – praktisch überall fällt auf, dass deutlich mehr Frauen als Männer anwesend sind. Vordergründig hat dies für den Mann den Vorteil, falls es die traditionelle Rolle des Führenden einnimmt, dass er eine grosse Auswahl an potentiellen Tanzpartnerinnen hat. Aus einer weniger konservativen Perspektive führt es ausserdem zu der begrüssenswerten Entwicklung, dass inzwischen einige Frauen sowohl führen als auch folgen können und damit die klassische Rollenverteilung beim Paartanz aufgebrochen wird.

Ich habe mich oft gefragt, weshalb augenscheinlich mehr Frauen als Männer tanzen. Wenn ich mich an meine Jugend- und Studienzeit zurückerinnere, so waren auf der Tanzfläche meistens deutlich mehr Frauen als Männer anzutreffen. Der Herrenanteil an der Bar glich dieses Missverhältnis im Club dann wieder aus. Vielleicht trauen sich Frauen durch ihre Tanzerprobungen an solchen Orten später auch eher an Paartänze heran?

Es dürfte meines Erachtens noch zwei weitere Gründe für die Zurückhaltung vieler Männer geben, sich für einen Tanzkurs anzumelden: Erst einmal werden an den Mann relativ hohe Erwartungen gestellt. Die konservative Fiktion, dass die Hauptverantwortung im Tanz beim Herrn liegt, wurde von einigen als Privileg aber von vielen anderen eher als abschreckend empfunden. Was ist, wenn ich den Takt nicht treffe? Was ist, wenn ich mir die Schritte nicht merken kann? Was ist, wenn ich nicht führen kann? Das Einnehmen dieser klassischen gesellschaftlichen Rolle als „Mann“ offenbart im beim Tanzen aber meines Erachtens paradoxerweise auch eine sonst nicht sichtbare Verletzlichkeit des Tänzers.

Ausserdem ist ein niederschwelliger Einstieg ins Tanzen – sei es nun der Tango oder ein anderer Tanz - dem Mann bei einer klassischen Rollenverteilung durch die ihm zugedachte Rolle grundsätzlich einmal verwehrt: Kann die Dame, der Musik und Tanz von aussen betrachtet gefallen, theoretisch relativ problemlos nach der Vermittlung einiger weniger Grundprinzipien gleich einmal ein paar Schritte auf dem Parkett ausprobieren und von der Erfahrung des Führenden profitieren – gerade beim Tango, bei dem auch Gehen in einer schönen Umarmung ein Erlebnis sein kann – so muss der Herr nach klassischer Vorstellung immer in der führenden Rolle starten. Er muss damit vom ersten Schritt an „tanzen können“.

Historischen Quellen zufolge war es aber im argentinischen Tango ursprünglich durchaus nicht unüblich, dass Männer sowohl führen als auch folgen konnten. So übten Männer gemeinsam an Practicas und ein naheliegender Weg, den Tango als Mann zu erlernen, war dabei, dass er von einem erfahreneren Mann geführt wurde. Das Ziel des gemeinsamen Trainings war es aber dann doch, ein guter Tänzer für Milongas zu werden, wo dann wieder die klassische Rollenverteilung zwischen führendem Herrn und folgender Dame galt.

Überträgt man dies nun in die heutige Lebenswirklichkeit, so stellt sich meines Erachtens ganz generell, aber gerade auch beim Tango die Frage, weshalb beim Tanzen weiterhin an ansonsten glücklicherweise weitgehend überholten Rollenbildern festgehalten wird.

Ich denke, dass „die Männer“ insbesondere durch eine Öffnung hin zu beiden Rollen aber auch zu beiden Geschlechtern nur profitieren könnten: Durch diese Öffnung würde sich nicht nur das Verständnis des Tangos und das Verständnis für den*die Tanzpartner*in verändern, sondern es würde sich auch ein ganz anderer Erfahrungsschatz eröffnen. Ich lerne jedenfalls von allen meinen Tanzpartner*innen immer etwas Neues.

Es wäre schön, wenn Queer Tango hierzu Impulse geben und Vorbild sein könnte. Als queeres Paar hört man manchmal „Ihr habt es gut, ihr könnt ja einfach…“ Da möchte man entgegnen: „Wieso könnt ihr das nicht? Das könnt ihr doch ebenso…“ Ein Herr, der von einer Dame geführt wird, zwei Damen oder zwei Herren, die miteinander tanzen, Rollenwechsel während des Tanzens, … Vielleicht könnte die Sichtbarkeit von alldem helfen, durch neue Ideen auch in der Breite das starre Rollengefüge aufzubrechen und andere ermutigen sich zu trauen und „es auch zu können“. Denn am Ende ist eine Milonga doch vor allem eines: Ein sozialer Anlass, bei dem man idealerweise mit seinen Tanzpartner*innen gemeinsam die Musik entdecken und erleben kann – unabhängig von Geschlecht, Rolle oder Status.

***

Danke an Reto für seinen Beitrag "Männlichkeit, Mythos, und Gesellschaftstanz". Ich möchte auch Alain Zurbuchen, Barbara Käser, Barbara Wenger, Be, Brigitta Winkler, Leslie T. Fernandez, Patrizia Nigg, Reto und Daniel dafür danken, dass sie ihre Talente, Weisheit und Gedanken mit und für QueerTango Zürich geteilt haben. Und vor allem danke ich Bernd Kasemir, meinem Mann, für sein unermüdliches Feedback und seine Hilfe beim Redigieren und Übersetzen dieses Newsletters.

***

Marc Vanzwoll
Tangolehrer – Klassen, Workshops, Privatstunden

+41 (0)79 474 10 37
info@queertango.ch
QueerTango Zürich


© Copyright 2021
Alle Inhalte, insbesondere Texte, Fotografien und Grafiken sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung, bleiben QueerTango Zürich vorbehalten.

 
 
Powered by Mad Mimi®A GoDaddy® company